Poliklinik Freiburg
Wir wollen im neu entstehenden Stadtteil Freiburg- Dietenbach ein Stadtteil- Gesundheitszentrum aufbauen, das eine ärztliche Grundversorgung mit Psycho-, Sozial- und Rechtsberatungsangeboten verbindet. Wir wollen Gesundheitsförderung und Prävention auch auf kollektiver Ebene begegnen und zudem eine unmittelbare Beteiligung an der Ausgestaltung des Stadtteilgesundheitszentrums ermöglichen. Im Mittelpunkt steht für uns also nicht nur die Erarbeitung einer konkreten Alternative der medizinischen Versorgung im ambulanten Bereich, sondern auch gesundheitliche und soziale Chancengleichheit, sowie die Lebensbedingungen und -verhältnisse der Menschen im Stadtteil. Den sozialen Determinanten von Gesundheit kommt dabei eine besondere Bedeutung bei.
Unsere Gesundheit ist beeinflusst von körperlichen, sozialen und psychischen Bedingungen, deswegen muss unser Projekt auf verschiedenen Säulen stehen:
– medizinische und psychologische Versorgung
– Gemeinwesenarbeit und Projekte im Quartier
– Selbsthilfe und Beratung
– Forschung und Evaluation
Und wer jetzt noch nicht genug hat und gern unsere ausführliches Konzept lesen möchte, kann dies nun tun:
Unser Konzept für ein solidarisches Stadtteilgesundheitszentrum Freiburg-Dietenbach
Die Stadt Freiburg plant, der Krise der sozialen Stadtentwicklung durch die Errichtung eines neuen Stadtteils zu begegnen. In Dietenbach sollen “bis 2040 gut 6.500 vor allem bezahlbare Wohnungen für über 15.000 Menschen entstehen”.1 Erste Wohneinheiten sollen 2024 bezugsfertig sein. Nach Beschluss des Gemeinderats sollen mindestens 50 Prozent der Wohneinheiten als geförderte Mietwohnungen errichtet werden. Dabei sollen nicht-profitorientierte Unternehmen, die Mietwohnungen dauerhaft in ihrem Bestand halten, eine zentrale Rolle spielen. Weitere Kernelemente sind Familienfreundlichkeit, Klimaneutralität und kurze Wege. Ein moderner, sozial durchmischter Stadtteil wie Dietenbach bedarf einer innovativen Gesundheitsversorgung auf der Höhe der Bedürfnisse und wissenschaftlichen Erkenntnisse des 21. Jahrhunderts. Eine gute Gesundheitsversorgung umfasst heute mehr als die rein medizinische Versorgung und Vorsorge. Als interprofessionelle Basisinitiative wollen wir ein Konzept entwickeln, wie eine zeitgemäße Gesundheitsversorgung aussehen kann, die sowohl den individuellen Bedürfnissen und Problemlagen von Patient*innen, als auch den gesundheitsbeeinflussenden gesellschaftlichen Verhältnissen Rechnung trägt.
Der Unterschied in der durchschnittlichen Lebenserwartung der Menschen beträgt in Deutschland zwischen der niedrigsten und höchsten Einkommenskategorie mehr als 10 Jahre.2 Dies kann nicht allein damit erklärt werden, dass in benachteiligten Vierteln die Ärzt*innendichte geringer ist oder Menschen sich „ungesund verhalten“. Vielmehr finden diese gesundheitlichen Ungleichheiten laut WHO ihre Ursache in der Gesellschaft, den “sozialen Determinanten von Gesundheit“. In diesem Sinne fordert die WHO Gesundheitsversorgung am Konzept der „Primary Health Care“ (PHC) zu orientieren. Hiermit ist sowohl die Verbesserung der konkreten Lebensumstände3 – der strukturellen Determinanten von Gesundheit – als auch eine auf Prävention basierende und leicht zugängliche primärmedizinische Versorgung gemeint. Zahlreiche wissenschaftliche Studien zeigen, dass PHC gegenüber klassischen Versorgungssystemen bessere Gesundheitsversorgung bei geringeren Gesamtkosten ermöglicht.4
Aus diesem Grund haben sich in verschiedenen Ländern (z.B. in Kanada, Niederlande, Slowenien, Portugal, Schweden, Brasilien) und zu verschiedenen Zeiten Versorgungszentren entwickelt, die sich an “Primary Health Care” orientieren und international als “Community Health Centres” (CHC) bekannt sind.
In den vergangenen Jahren sind in Deutschland mehrere Initiativen entstanden, die sich am CHC-Konzept orientieren und somit zu einer Verbesserung und Neuorientierung der Gesundheitsversorgung in den Stadtteilen beitragen wollen. Diese finden insbesondere Unterstützung durch Förderprogramme der Robert-Bosch-Stiftung.5 Wir wollen an diese Erfahrungen anknüpfen und streben insbesondere eine Zusammenarbeit mit zwei von der Robert-Bosch-Stiftung geförderten Projekten an: Der bereits bestehenden Poliklinik Hamburg-Veddel6 und dem in Entwicklung befindlichen Berliner Gesundheitskollektiv.7
Unsere Vision
4 Grundpfeiler für eine bessere Gesundheitsversorgung im Stadtteil
Wir wollen im neu entstehenden Stadtteil Freiburg-Dietenbach eine integrierte Versorgungsstruktur aufbauen, die erstens primärmedizinische Versorgung mit Sozial- und Rechtsberatungsangeboten verbindet; zweitens Gesundheitsförderung und Prävention auf individueller und kollektiver Ebene etabliert und drittens Strukturen der gesellschaftlichen Partizipation im Stadtteil schafft, die eine unmittelbare Beteiligung an der konkreten Ausgestaltung des Stadtteilgesundheitszentrums ermöglicht.
Es handelt sich also um ein Modellprojekt im doppelten Sinne: Zum einen wird eine integrierte Versorgung aufgebaut, zum anderen leisten wir über die permanente Evaluation einen Beitrag zu Erforschung neuer Behandlungsmethoden und eines effizienteren Ressourceneinsatzes im Gesundheitsbereich.
Dabei bauen wir auf folgende vier Säulen:
1. Primärmedizinische Versorgung
Die Primärmedizin bietet eine ganzheitliche Versorgung für die Gesundheitsbedürfnisse aller Bevölkerungsschichten während der gesamten Lebensdauer. Sie gewährleistet ein umfassendes Angebot – von Gesundheitsförderung und Prävention über die Behandlung bis hin zur Rehabilitation und Palliativversorgung. Dabei orientiert sie sich an den alltäglichen Lebensbedingungen der Patient*innen.
Vor allem vulnerable Gruppen (Menschen mit geringem sozioökonomischen Status, von Erwerbslosigkeit betroffene Menschen, Menschen ohne festen Wohnsitz, Menschen mit Behinderungen und Menschen mit Migrationshintergrund) werden oft nicht entsprechend ihrer Bedürfnisse medizinisch versorgt. Die Folge ist eine deutlich erhöhte Morbidität und Mortalität aufgrund ungedeckter Bedarfe bei gleichzeitig höheren Kosten für das Gesundheitssystem.8 Überlaufene Rettungsdienststellen werden im oft wenig transparenten Gesundheitssystem als erste Anlaufstelle für gesundheitliche und soziale Probleme aufgesucht.
Ein in unserem Stadtteilgesundheitszentrum integriertes System soll zielgruppenspezifische Versorgungsangebote auch außerhalb des Stadtteils schaffen um Lücken in der primärmedizinischen Versorgung geflüchteter und wohnungsloser Menschen in Freiburg schließen zu können.
2. Gemeinwohlorientierte, interprofessionelle Zusammenarbeit
Im Zuge der immer weiter voranschreitenden Privatisierung und Ökonomisierung der Medizin fordern junge Ärzt*innen schon seit einiger Zeit eine Umgestaltung und Veränderung des Gesundheitswesens nicht nur im stationären Bereich. Auch der ambulante Sektor wird zunehmend als unattraktiv wahrgenommen. Die zukünftige Generation wünscht sich eine bessere Balance zwischen Beruf und Privatleben, mehr Zeit für die Patient*innen und damit höhere Lebensqualität für sich und bessere Versorgung der Bevölkerung.9 Familienfreundlichere Arbeitsbedingungen in angestellten Berufsverhältnissen mit moderaten Gehältern sind für die neue Ärzt*innengeneration beliebter als die Vereinzelung im Kleinunternehmen Praxis oder dem Großkonzern Krankenhaus.
Auch der ambulante Sektor wird zunehmend von profitorientierten Großkonzernen als Teil eines Gesundheitsmarktes wahrgenommen. Für uns hingegen sollen im Stadtteilgesundheitszentrum keine wirtschaftlichen Gewinne im Vordergrund stehen, sondern soziale und gesundheitspoltische Ziele in der Neuformung der ambulanten Gesundheitsversorgung als neuer Standard in Deutschland.
Die Mitarbeiter*innen des Stadtteilgesundheitszentrums verstehen sich dabei als Gesundheitsarbeiter*innen mit unterschiedlichen Spezialisierungen und streben ein kooperatives Herangehen an alle Aspekte der Versorgung durch die auf die jeweiligen Bereiche spezialisierten Professionen an.10
Somit ist die klassische ärztliche Versorgung, beispielsweise in den Bereichen Allgemeinmedizin, Frauenheilkunde und Kinderheilkunde, für uns nur ein Element einer gelungenen Gesundheitsversorgung. Ebenso müssen die Bereiche Psychotherapie und psychosoziale Beratung, Heilmittelerbringer*innen (Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Ernährungstherapie), Hebammen, ambulante Pflege, Stadtteilgesundheitsarbeit (Community Health Workers) und Gesundheitspädagogik (Health promotors), sowie Sozial- und Rechtsberatung (soziale Arbeit) einbezogen werden. Dabei soll auf bereits bestehende Strukturen zurückgegriffen werden. Die Zusammenarbeit dieser diversen Gesundheitsberufe bedarf der Koordination durch medizinische Fachangestellte, die individuelle Betreuung in komplexen Fällen (case management) leisten können.
Um tatsächlich zu einer gemeinsamen Bearbeitung der gesundheitlichen Belange der Nutzer*innen zu gelangen, müssen die vielfältigen Hierarchien im Gesundheitswesen wahrgenommen und über Bord geworfen werden. Ziel unseres Projektes ist es, sich der unterschiedlichen Blickwinkel auf Gesundheit bewusst zu werden, voneinander zu lernen und zusammen ein neues Verständnis von Gesundheit und Krankheit sowie den daraus resultierenden (Be-)Handlungsoptionen zu schaffen.
3. Prävention und Gesundheitsförderung im Quartier
Prävention und Gesundheitsförderung sind Hauptsäulen einer an “primary health care” orientierten Gesundheitsversorgung für Alle. Viele Präventionsangebote werden ihrem Anspruch aber nicht gerecht und erreichen Menschen in besonderen Lebenslagen nur unzulänglich. Dabei sollte der Zugang zu Prävention möglichst niedrigschwellig, transparent und zielgruppenorientiert sein, um die Krankheitslast und assoziierte Risikofaktoren in einer Bevölkerungsgruppe zu minimieren und Gesundheit zu fördern. Den sozialen Determinanten von Gesundheit kommt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle zu.
Wir wollen die eigenen Ressourcen von Patient*innen und Anwohner*innen fördern um gemeinsam Gesundheitskompetenzen der Menschen im Stadtteil zu stärken.11 Dabei können bedarfsorientierte Strukturen entstehen, die gemeinsam mit Patient*innen entwickelt und partizipativ umgesetzt werden. Dies schafft durch ein hohes Maß an Selbstbestimmung vermehrt Akzeptanz und Wissen über die verschiedenen Angebote und fördert die psychische, physische und soziale Gesundheit.12 Wir gehen davon aus, dass die Qualität im Gesundheitssystem gesteigert werden kann, wenn Menschen an der Gestaltung ihrer Gesundheitsversorgung und ihrer Lebensumstände beteiligt sind. Diese Form der Mitgestaltung kann an verschiedenen Schnittstellen in bereits bestehende Projekte in Freiburg eingebunden werden.
4. Evaluation und Forschung
Mit unserem Stadtteilgesundheitszentrum entwerfen wir die Praxis eines neuen Gesundheitsverständnisses und der dementsprechenden Gesundheitsversorgung. Die ständige Evaluation und Weiterentwicklung sind konstitutiv für den Erfolg eines solchen Leuchtturmprojekts. Hierzu sollen die soziodemographischen Charakteristika der betreuten Bevölkerung erfasst und gesundheitliche Einflüsse und Problemlagen im Stadtteil ermittelt werden.13 Um spezifische Interventionen entwickeln und implementieren zu können und deren Auswirkungen auf die Gesundheit im Stadtteil langfristig verfolgen zu können, benötigen wir valide Daten. Hierfür streben wir eine enge Zusammenarbeit mit dem Lehrbereich Allgemeinmedizin der Universitätsklinik Freiburg und eine Mitarbeit im aktuell im Aufbau befindlichen Netzwerk von Forschungspraxen an.
Zugleich ist es eine der zentralen Aufgaben, wissenschaftliche Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Lebenssituation und Gesundheitszustand zu generieren, um Leitlinien einer zeitgemäßen Gesundheitsversorgung zu verbessern.
—————————————————————
1 https://www.freiburg.de/pb/495838.html
2 Lampert, T., Richter, M., Schneider, S. et al. Bundesgesundheitsbl. (2016) 59: 153. https://doi.org/10.1007/s00103-015-2275-6
4 vgl. WHO 2008 World Health Report 2008: Primary Health Care – Now more than ever! https://www.who.int/whr/2008/en/
10 https://www.bosch-stiftung.de/de/thema/kooperation-der-gesundheitsberufe
13 http://www.euprimarycare.org/sites/default/files/2013%20Alma%20Ata%20-%20EngelsJDM.pdf